Frau Eff.. und die Selbstwirksamkeit

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Die Betreute Frau J. ist schon seit dem Beginn ihrer Volljährigkeit, also seit mehr als zehn Jahren bei mir „unter Vertrag“. Eine intellektuelle Minderbegabung und die massive sexuelle Misshandlung durch ihren Vater, als sie sieben Jahre alt war, beschweren und erschüttern ihr Leben bis heute. Ein nomadenhaftes Umzugsverhalten, fehlende Bindungsfähigkeit, wöchentlich wechselnde Freunde und eine extreme Unruhe ziehen sich durch ihr Leben, und damit auch durch meines. Ihre Heimatlosigkeit ist allumfassend. Keine Stadt, keine Bekanntschaft, keine professionellen Helfer, keine gemütlich eingerichtete Wohnung, kein Haustier, weder ihr Körper noch die gar nicht so seltenen positiven Erfahrungen können ihr Halt und Geborgenheit geben. Sie verlässt alles und jeden, sobald sich die kleineste Schwierigkeit anbahnt, und zieht dabei auch betreuungsrechtlich eine Spur der Verwüstung hinter sich her.

Innerhalb von fünf Monaten hat sie in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung dreimal den Arbeitsplatz gewechselt, bevor man ihr letztendlich wegen unentschuldigten Fehlen gekündigt hat. Ermutigt von den Reaktionen, die dies ausgelöst hat (Fallbesprechungen, erhöhte Aufmerksamkeit, Bitten, Drohungen, Zuwendung), wollte sie dann auch den Anbieter des ambulant betreuten Wohnens wechseln. Mit – wie ich finde- einer Engelsgeduld, habe ich versucht, dies zu verhindern, weil der Hintergrund mir relativ klar war: Frau J. ist nicht mit den Mitarbeitern unzufrieden, sondern mit ihrem eigenen Leben. Ohne Arbeit fehlt ihr die Tagestruktur, sie langweilt sich, mault dem Betreuten Wohnen mit immer neuen Themen die Ohren voll und findet keinen Weg aus dieser Sackgasse. Also sucht und findet sie das, was man so schön „Selbstwirksamkeit“ nennt, in der Ablehnung der Menschen, die ihr die eigene doofe Situation spiegeln. Beim ambulant betreuten Wohnen treibt sie es so weit, dass der Anbieter ihr kündigt, weil sie monatelang keinen Kontakt zulässt. Als eine neue aufsuchende Unterstützung installiert ist, werde ich das Ziel ihrer Selbstwirksamkeit. Frau J. geht zum Amtsgericht und gibt dort zu Protokoll, wie furchtbar ihre Betreuerin sei und dass sie unbedingt sofort eine neue Betreuerin will.

Das Protokoll wird mir wie üblich zur Stellungnahme zugesandt. Mit der Antwort gebe ich mir große Mühe, über drei lange Seiten schildere ich die Lebenssituation der Klientin. Ich schließe mit der Bitte, in der Sache den Ball flach zu halten und dem Wunsch nach Betreuerwechsel nicht stattzugeben. Leider ist das Amtsgericht hier nicht einsichtig und setzen die teure Maschine in Gang: Für die Betreute wird eine Verfahrenspflegerin benannt, in diesem Fall eine unbedarfte junge Anwältin, die neben Verkehrsrecht auch mal was mit Menschen machen möchte. Sie lädt Frau J. in ihre funkelnde Kanzlei ein, hört sich aufmerksam ihre Klagen an und wendet sich empört an mich. Das ginge ja nicht, dass ich der armen Frau J. kein Geld gäbe, sie quasi hungern lasse, den Umzug zum Freund verbiete, ihr keine Arbeit besorge und vieles mehr. Schnell ist dies klar gestellt und Frau Anwältin um eine Erfahrung reicher.

Als nächstes steht die persönliche Anhörung bei der Richterin an. Frau J. genießt dieses ganze Theater um ihre Person sichtlich. Sie fühlt sich ernst genommen und mit schriftlichen Einladungen und einem persönlichem Rechtsanwalt endlich mal angemessen behandelt.
„Welche Wünsche wollen sie denn mit einer neuen Betreuerin realisieren?“ fragt die Richterin. Frau J. schaut sie fragend an. Ich sage zur Richterin, dass Frau J. das Wort „realisieren“ nicht kennt. Die Richterin ist verzagt und sucht nach Worten. „Aus welchen Gründen wollen Sie eine neue Betreuerin?“ versucht sie es. Frau J. pustet mit der Unterlippe Luft in ihren Pony und schweigt. „Wollen Sie ihren Antrag überhaupt aufrecht halten?“ fragt die Verfahrenspflegerin. Frau J. knibbelt an ihrem Pullover herum. „Also wollen Sie jetzt eine andere Betreuerin oder nicht?“ fragt die Richterin genervt. „Ja“ sagt Frau J. „Ja, was?“ fragt die Anwältin. „Ja, ne Neue, manno!“ motzt Frau J. „Und was sind Ihre Gründe?“ Keine Antwort.
„Wollen Sie ihren Antrag aufrecht halten?“ fragt die Richterin mich. „Ich habe keinen Antrag gestellt“ gebe ich zu Protokoll. Sie werde sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, informiert uns die Richterin, der Termin sei hiermit beendet. Drei Stunden später habe ich ein Fax auf dem Schreibtisch, dass der Antrag der Betreuten abgelehnt wurde, weil sie keine Gründe für einen Betreuerwechsel vorgebracht hat. Frau J. selbst wird dies nie lesen können, sie ist Analphabetin.