Ein Beitrag zum Thema Geschäftsfähigkeit – „Rückwärtsprognose“

Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg, vom 23.07.2020 – 5 U 158/19

I. Vorbemerkung

Nur in Ausnahmefällen wird von den Betreuungsgerichten ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, der es rechtlichen Betreuern ermöglicht, die Wirksamkeit einseitiger Rechtsgeschäfte – wie zum Beispiel den Widerruf eines Kaufvertrages, die Abnahme einer werkvertraglichen Leistung oder die Kündigung eines Mietvertrages – und den Abschluss von Verträgen durch die Verweigerung ihrer Genehmigung zu verhindern. In der Regel hängt daher die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften, die eine betreute Person vornimmt, davon ab, ob sie geschäftsfähig ist.

Nach § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Die Rechtsfolge ist, dass die eigene Willenserklärung des Geschäftsunfähigen nichtig ist. Ob bei betreuten Personen Geschäftsfähigkeit vorliegt, stellt immer eine Frage des Einzelfalles dar und ergibt sich selbstverständlich nicht allein aus der Anordnung einer rechtlichen Betreuung.
In der Praxis stehen rechtliche Betreuer häufig vor dem Problem, ob sie die rechtlichen Verpflichtungen, die sich aus Rechtsgeschäften ergeben (Telefonrechnungen / Versicherungsprämien / Einkäufe über Internet-Plattformen etc.) erfüllen müssen; häufig auch deshalb, weil die Betreuten im Nachhinein erkennen, dass sie sich durch ihr Verhalten selbst geschadet haben.
In diesen Fällen stellt sich zunächst die Frage, ob das Rechtsgeschäft wirksam zustande gekommen ist. Wenn sich rechtliche Betreuer auf die Geschäftsunfähigkeit der betreuten Person berufen, ist es ihre Aufgaben, die Geschäftsunfähigkeit außergerichtlich oder eventuell in einem späteren Prozess darzulegen und zu beweisen (Darlegungs- und Beweislast). Hierfür wird es wohl fast immer auf die Einschätzung eines medizinischen Sachverständigen ankommen, der – und das ist das Problem – im Nachhinein die Geschäftsfähigkeit der betreuten Person zum Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts beurteilen muss. Um diese Frage ging es auch in der Entscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 23.07.2020:

II. Urteil des OLG Brandenburg

Im streitgegenständlichen Verfahren vor dem OLG Brandenburg hatte sich die 1943 geborene Klägerin darauf berufen, dass ihre im Rahmen eines notariellen Schenkungsvertrages am 14.10.2014 abgegebene Erklärung aufgrund der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Geschäftsunfähigkeit nichtig gewesen sei. Sie hatte im Alter von ca. 70 Jahren ihre Eigentumswohnung ihrer Nichte und deren Ehemann geschenkt. Durch Beschluss vom 23.10.2015 hatte das zuständige Betreuungsgericht auf Veranlassung des Ehemannes der Nichte eine rechtliche Betreuung angeordnet. Grundlage der Entscheidung war ein Sachverständigengutachten einer Ärztin, die die Betreute am 18.12.2014 und 08.01.2015 untersucht und eine Demenz diagnostiziert hatte. Der rechtliche Betreuer klagte gegen die Nichte und deren Ehemann auf Rückübertragung des Eigentums an der Wohnung. Zum Beweis berief sich der von ihm beauftragte Rechtsanwalt auf das Betreuungsgutachten, versäumte es jedoch, im Prozess erneut den Sachverständigenbeweis anzubieten.
Das Gericht, geht davon aus, dass grundsätzlich die Möglichkeit besteht, auch nachträglich anhand von Indizien die Geschäftsunfähigkeit einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt festzustellen (sogenannte Rückwärtsprognose). Die Behauptung der Geschäftsunfähigkeit sei durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu klären, in dessen Rahmen die Aussagen von Zeugten, aber auch die Befunde früherer Gutachter – wie zum Beispiel diejenigen aus dem Betreuungsgutachten – als Anknüpfungstatsachen für eine Bewertung herangezogen werden können.
Die Klage des Betreuers hatte keinen Erfolg, da sich allein aus dem Betreuungsgutachten und den Aussagen von Zeugen (u.a. der beurkundenden Notarin), die sich nicht eindeutig zu der Verfassung der Betreuten zum Zeitpunkt der Beurkundung des Schenkungsvertrages äußerten – nicht zweifelsfrei die Geschäftsunfähigkeit der Betreuten ergab. Hierfür hätte im Prozess ein weiteres medizinisches Gutachten eingeholt werden müssen, was allerdings im Zivilprozess voraussetzt, dass die anwaltlich vertretene Klägerin ein entsprechendes Beweisangebot unterbreitet. Von Amts wegen ist das Gericht im Parteiprozess nämlich grundsätzlich nicht befugt, von sich aus, Beweise zu erheben. In diesem Zusammenhang vertritt das OLG Brandenburg die Auffassung, dass die Klägerin vom Gericht nicht auf die Möglichkeit des Sachverständigenbeweises hätte hingewiesen werden müssen (Hinweispflicht nach § 139 Abs. 2 ZPO – Zivilprozessordnung), da sich dieser nach den Zeugenvernehmungen aufgedrängt habe. Die Zeugen hatten nämlich sinngemäß ausgesagt, die Geschäftsfähigkeit der Klägerin (Betreuten) nicht abschließend beurteilen zu können.

III. Kommentar

Die Entscheidung wirft zunächst die Frage auf, ob der Betreuer im Innenverhältnis vor Klageerhebung den Willen der Betreuten ausreichend erforscht und berücksichtigt hat. Zwar kann die Schenkung einer Eigentumswohnung ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die Betreute diese Entscheidung später wieder rückgängig machen möchte. Bei einer Schenkung unter Verwandten liegt dies aber keineswegs auf der Hand und auffällig ist zudem, dass die Anregung zur Betreuerbestellung von dem Schwiegersohn erfolgte.
Ohne konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Betreute die Schenkung rückgängig machen will, hätte daher kein Anlass für die Klage bestanden und eine objektive und vernünftige Betrachtungsweise verbietet sich an dieser Stelle sowohl nach geltendem Recht und erst recht ab 2023, wenn das Gesetz zur Reform des Vormundschaft- und Betreuungsrechts in Kraft tritt, in dem der Wunsch und Wille der Betreuten in § 1821 BGB besonders hervorgehoben wird.
Jedoch sollte die Entscheidung rechtliche Betreuer auch veranlassen, Forderungen von vermeintlichen Vertragspartnern, denen Erklärungen der Betreuten zugrunde liegen, die vor Anordnung der rechtlichen Betreuung oder während des Bestehens der rechtlichen Betreuung abgegeben worden sind, nicht ohne Prüfung der Geschäftsfähigkeit anzuerkennen; insbesondere dann, wenn die betreute Person an diesen Erklärungen nicht mehr festhalten möchte. In der Praxis kann der Hinweis auf die ggf. fehlende Geschäftsfähigkeit ein guter Einstieg für Vergleichsverhandlungen mit den Geschäftspartnern sein. Je kürzer der zeitliche Abstand zwischen dem Rechtsgeschäft und der Anordnung einer rechtlichen Betreuung ist, desto eher dürfte im Nachhinein noch eine verlässliche Aussage über das Vorliegen der Geschäftsfähigkeit von einem medizinischen Sachverständigen zu erwarten sein und in Ausnahmefällen auf eine gerichtliche Klärung dieser Frage gedrungen werden.

Schließlich ist die Entscheidung des OLG Brandenburg auch haftungsrechtlich interessant, da die Annahme einer Pflichtverletzung nach der Begründung der Entscheidung naheliegt. In dem Verfahren in der ersten Instanz vor dem Landgericht bestand Anwaltszwang, so dass hinsichtlich des unterlassenen Beweisangebotes nur eine anwaltliche Pflichtverletzung angenommen werden kann. Ob das Gericht, den rechtlichen Betreuer auf die Möglichkeit hingewiesen hätte, die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu beantragen, wenn die Klägerin nicht anwaltlich vertreten gewesen wäre, lässt sich schwer vorhersagen. Der Gesetzgeber hat hinsichtlich der Hinweispflicht gemäß § 139 Abs. 2 ZPO allerdings nicht zwischen anwaltlich vertretenen und nicht anwaltlich vertretenen Parteien differenziert.