Zustellungen von Urteilen und Vollstreckungsbescheiden an eine prozessunfähige Partei sind wirksam,

wenn sich die Prozessunfähigkeit nicht aus dem zuzustellenden Titel (hier: Vollstreckungsbescheid) ergibt

Urteil des BGH vom 19.03.2008 (VIII ZR 68/07)

Der VIII. Zivilsenat des BGH hat in einer länger zurückliegenden Entscheidung aus dem Jahr 2008 die Rechtsprechung des Reichsgerichts bestätigt und trotz der Regelung in § 170 Abs. 1 ZPO die Zustellung eines Vollstreckungsbescheides an eine geschäfts- bzw. prozessunfähige Person als wirksam angesehen, mit der Folge, dass die Einspruchsfrist in Gang gesetzt und der Vollstreckungsbescheid rechtskräftig wurde. Das Urteil bezieht sich nicht unmittelbar auf das Betreuungsrecht und ist folglich auch nicht von dem für Betreuungssachen zuständigen Senat erlassen worden. Es hat aber erhebliche Auswirkungen für die Tätigkeit rechtlicher Betreuer:

Dem Kläger war im September 2003 ein Vollstreckungsbescheid (900,00 €) zugestellt worden, gegen den er erst 2 ½ Jahre später im März 2006 mit der Begründung Einspruch einlegte, er sei wegen einer Alkoholerkrankung bis Ende 2004 geschäftsunfähig gewesen. Hilfsweise beantragte er im Hinblick auf möglicherweise versäumte zweiwöchige Einspruchsfrist die Widereinsetzung in den vorigen Stand.

Mit seinem Begehren hatte der Kläger in sämtlichen Instanzen keinen Erfolg und wurde auf die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage (§§ 579 ff. ZPO) verwiesen. Zur Begründung berief sich der BGH auf den Gedanken der Rechtssicherheit und die Entstehungsgeschichte des § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Zustellungen könnten nicht allein durch die Behauptung unwirksam werden, man sei zum Zeitpunkt der Zustellung prozessunfähig gewesen. Daher würden Fristen grundsätzlich auch in Gang gesetzt, wenn der Zustellungsempfänger prozessunfähig ist und sich die Prozessunfähigkeit auch nicht aus dem zuzustellenden Titel erkennbar ergäbe. Die Regelung in § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO sei folglich dahingehend auszulegen, dass Zustellungen an eine prozessunfähige Partei ausnahmsweise wirksam sind, wenn die Partei vom Gericht als prozessfähig behandelt wird. Entsprechend sei bereits die Vorgängervorschrift ausgelegt worden und aus den Gesetzesmaterialien sei ersichtlich, dass der Gesetzgeber insoweit keine Änderung bei der Neuregelung des § 170 ZPO habe vornehmen wollen.

Die Entscheidung des BGH widerspricht zwar dem Wortlaut des § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO, ist aber auf Grund der im Zivilrecht anerkannten Auslegungsmethoden rechtlich gut vertretbar.
Für Berufsbetreuer dürfte das Urteil vor allem zu Beginn einer Betreuung und dann von Bedeutung werden, wenn die betreute Person in Unkenntnis des Betreuers Rechtsstreitigkeiten führt, von denen der Betreuer erst nach Rechtskraft einer Entscheidung erfährt.

Erfolgen Zustellungen an den geschäfts- bzw. prozessunfähigen Betreuten, kommt zunächst ein Antrag auf Widereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht, wenn eine Rechtsmittelfrist oder – im gerichtlichen Mahnverfahren – die Einspruchsfrist abgelaufen ist. Allerdings ist ein Antrag auf Widereinsetzung in den vorigen Stand unzulässig, wenn er nicht innerhalb eines Jahres nach Ablauf der Rechtsmittel- bzw. Einspruchsfrist gestellt wird. Aus diesem Grund hatte auch der Hilfsantrag des Klägers in dem vorliegenden Fall keinen Erfolg. Denn die Einspruchsfrist war bereits seit über 2 Jahren abgelaufen. In diesen Fällen kann nur die Nichtigkeitsklage weiterhelfen. Sie wäre innerhalb eines Monats nach der erneuten Zustellung des Urteils / Vollstreckungsbescheides an den Betreuer zu erheben und mit der mangelnden Vertretung des Betreuten in dem Verfahren zu begründen. Die Beweislast für die Prozessunfähigkeit trägt in diesen Fällen der Betreute. Hieran dürften zahlreiche Nichtigkeitsklagen scheitern, da der Nachweis der Prozessunfähigkeit von dem Betreuten zu führen ist und sich zudem auf den Zeitpunkt der zuerst bewirkten Zustellung bezieht; also einen länger zurückliegenden Zeitpunkt. Im vorliegenden Fall müsste der Kläger im Jahr 2008 den Beweis führen, dass er im September 2003 prozessunfähig war und auch dann ist der Rechtsstreit in der Sache noch nicht gewonnen, sondern nur die Möglichkeit eröffnet, den Zahlungsanspruch (900,00 €) materiellrechtlich anzugreifen. Der Weg, Vollstreckungstitel über die Nichtigkeitsklage anzugreifen, sollte daher immer die Vorüberlegung einschließen, ob der geltend gemachte Anspruch gegen den Betreuten tatsächlich besteht oder zu Unrecht geltend gemacht wurde.

Schließlich verdeutlicht die Entscheidung aber auch den Schutzgedanken des § 53 ZPO, der politisch in letzter Zeit häufig im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Betreuten kritisiert worden ist. Führen rechtliche Betreuer erkennbar Rechtsstreitigkeiten für den Betreuten, bleibt es dabei, dass Zustellungen nach § 170 Abs. 1 ZPO an den Betreuten unwirksam sind. Dies kann zum Schutz der betreuten Person erforderlich sein, beispielsweise, wenn der Betreute krankheitsbedingt den Betreuer über Zustellungen nicht informieren kann oder will. Diejenigen, die für eine Abschaffung des § 53 ZPO plädieren, sollten daher nicht übersehen, dass dadurch Zustellungen an den prozessunfähigen Betreuten auf Grund der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung in zahlreichen Fällen wohl wirksam würden.