Frau Eff… und der Klientenblick

Frau Eff… und der Klientenblick

Es ist ein warmer Sommerabend in Brüssel, eine Stadt, die Frau Eff sehr mag. Ganz in der Nähe des königlichen Palastes, zwischen Jugendstilhäusern und Bürogebäuden geht laut schimpfend ein Mann. Seine Sprache ist nicht zu entziffern, seine Wut lange gekocht. Mit großer Empörung hebt er die Faust und ruft mir etwas zu. Während ich weitergehe, überlege ich, wo er wohl schläft, diese Nacht. Man sieht in der Stadt viele Obdachlose, die auf den Gehwegen ihre Zelte aufgeschlagen haben. Manchmal stellen Anwohner ihnen Wasserflaschen, Brot und Hundefutter vor den improvisierten Unterschlupf. Wie ist die psychosoziale Versorgung in Belgien? Gibt es so etwas wie rechtliche Betreuung? Wie sieht es in den Psychiatrien aus? Das geht mir in dem Moment gleich durch den Kopf.

Manchmal lande ich im Urlaub auch in einer Klinik oder in einer Gruppe behinderter Menschen. Ich fühle mich dann immer gleich zuhause und schaue mir an, was es zu sehen gibt. Auch wiederum in Belgien findet man zum Beispiel das interessante Museum Dr. Guislain (www.museumdrguislain.be), ein Museum zur Geschichte der Psychiatrie. Die Ausstellung ist in faszinierenden alten Gebäuden untergebracht, die auch heute noch als psychiatrische Klinik genutzt werden. So bekommt man nicht nur ein interessantes Museum zu sehen, sondern wird im schattigen Innenhof auch gleich um eine Zigarette angeschnorrt und ins empfehlenswerte Cafe begleitet.

Selten schafft es Frau Eff, im Urlaub und in der Freizeit den „Klientenblick“ abzustellen. Viele Begegnungen sind subtil, nur Kleinigkeiten verraten die Geschichte hinter den Leuten, die man in der U-Bahn sieht oder am Bahnhof oder im Cafe. Trotzdem ist das Wiedererkennen immer gleich da.

Im Bahnhofsrestaurant sehe ich jemanden, der sehr vorsichtig, mit Messer und Gabel, ein Stück Erdbeertorte isst. Etwas stimmt da nicht, Messer und Gabel, hm, und schon sehe ich unter dem Tisch einen zusammengerollten Schlafsack, dahinter versteckt einen Hund, und dann auch die Furcht im Blicke des Mannes. „Ein Klient“, denke ich. Wenige Minuten später steigt mit mir eine Frau in den Zug. Ordentlich angezogen, etwas in Eile. Sie schaut auf die Uhr, steigt ein, schaut auf die Uhr, steigt wieder aus. Geht ein paar Meter, schaut auf die Uhr, steigt wieder ein. Die Abfahrt wird angekündigt, sie steigt wieder aus. Erst jetzt sehe ich, dass ihr Koffer überall an den Öffnungen mit kräftigem Klebeband verschlossen ist. Sicher 20 Meter Klebeband hat sie an dem kleinen Koffer verarbeitet. „Noch eine Klientin“, murmele ich. Und so geht es weiter. Überall flackernde Blicke, wirre Sätze, zerstochene Unterarme, kleine und große Fluchten. Manchmal wird mir das zu viel, da will ich dann auch mal Feierabend haben, und nicht ständig Leute sehen, denen der Wahnsinn in den Augen steht. An einem beliebigen Samstagabend könnte man wahrscheinlich jeden zweiten S-Bahn-Wagon komplett unter Betreuung stellen. Um abschalten zu können, muss ich dann mit dem Auto fahren.

Manchmal ist trotzdem kein Entkommen, dann fallen die Geschichten sozusagen vom Himmel. Wie letztens beim Friseur. Die Haareschneiderinnen wollen ja immer Konversation machen und so landet man schnell beim Beruf. Als sie hört, womit ich mein Geld verdiene, erzählt die junge Frau, dass sie letztens von einer Freundin angerufen wurde, die in der Psychiatrie sei. „Wegen der Sachen, wo die immer am Wochenende eingeworfen hat, so Pillen, ist die voll psycho geworden“, erzählt die Frisöse. Drogenindizierte Psychose, vermute ich mal.

„Ich bin da aber nicht hin, die besuchen“, sagt die Frisöse.
„Warum nicht?“, will ich wissen.
„Weiß nicht, die ist voll krass drauf, die kennt einen gar nicht mehr.“
„Aber sie hat Sie doch angerufen.“
„Ja, weil keiner die besucht. Boah, könnt ich auch nicht, Klapse und so.“
„Ist aber nicht ansteckend. Und auch ganz schön doof, wenn man keinen Besuch bekommt.“
„Ja…“
„Ist eigentlich ein ganz normales Krankenhaus, die Psychiatrie.“
„Sind die denn nicht gefährlich, ich meine, die anderen Insassen?“
„Nein, keine Sorge.“
„Die würde sich sicher freuen. Die hat ja auch mal hier gearbeitet.“
„Versuchen Sie es mal, Sie werden es nicht bereuen.“

Ich zeige ihr, wie sie auf ihrem Smartphone die Besuchszeiten der Station findet und wüsche ihr und der Freundin alles Gute.