Herr Ähm … Der Suppenkasper

Früher, als ich klein war, gab es ein Buch. Das Buch hieß: „Der Struwwelpeter“. Natürlich gibt es das Buch immer noch. Es gilt aber als pädagogisch äußerst fragwürdig und wird Kindern eher selten vorgelesen; kein Wunder, werden darin doch dem armen Konrad die Daumen mit der Schere abgeschnitten, weil er andauernd an ihnen lutscht und Paulinchen verbrennt zu einem Häufchen Asche, weil es unerlaubterweise mit den Zündhölzern gespielt hat. Harter Tobac, aber das Buch stammt auch aus dem Jahr 1844; also aus einer Zeit zu der man noch Neger sagen durfte. Geht heute ja auch nicht mehr.

Seit ich Betreuer bin, kommt mir das Buch immer wieder in den Sinn; vor allem der Suppenkasper hat es mir angetan.

In der kurzen Geschichte verweigert ein Junge beharrlich die Nahrungsaufnahme, solange bis er gar wie ein Fädchen war und schließlich das Zeitliche segnet. „Nein, meine Suppe ess’ ich nicht!“ lautet der wiederkehrende Satz. Heute würde man den Suppenkasper wahrscheinlich Systemsprenger nennen, also ein Typ, der nicht ins Schema passt und äußerst bockig daherkommt. Vielleicht denken Sie jetzt, ich spiele auf die Krankheitsbilder der Betreuten an, aber weit gefehlt. Nein, ich selbst werde langsam zum Suppenkasper:

So soll ich beispielsweise in seitenlange Formulare kleine Zahlen und Kreuzchen in zu kleine Kästchen machen. Ich erwische mich dabei, einfach größer zu schreiben und dadurch meinen stillen Protest über den unzureichenden Platz zum Ausdruck zu bringen. Für Herrn N., der seinen Arbeitsvertrag ohne mein Wissen zum 31.01.2020 gekündigt hatte, was nicht clever war, und der am 06.02.2020 ein neues Arbeitsverhältnis begründet hat, sollen nun Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum von 01.02. bis 05.02.2020 beantragt werden. „Nein, meine Suppe ess’ ich nicht!“ fährt es mir durch den Kopf. Neulich war ich dann kurz vor der Totalverweigerung. Beleg 17 für die Überweisung der im Monat Februar zu entrichtenden Rate für die Haftpflichtversicherung (5,70 €) von Herrn S. fehlte in der Jahresabrechnung, was umgehend von der gründlichen „Korinthenkackerrechtspflegerin“ angemahnt wurde. „Nein, meine Su…!“ Störrisch warf ich einen Leitzordner in die Ecke.

Besonders schlimm ist es natürlich, wenn der ein oder andere Suppenkasper unter den Betreuten auftaucht. Die Ungerechtigkeit besteht darin, dass es bei ihm eine Krankheit ist; bei mir (noch) nicht. Mein Lieblingsbetreuter – nennen wir ihn Herr K. – ist leider seit fast 5 Monaten geschlossen untergebracht und ich suche zusammen mit dem sogenannten Entlassungsmanagement – was ist das eigentlich? – und dem Ärzteteam nach einer geeigneten Wohnmöglichkeit: Therapeutische Wohngemeinschaft, eigene Wohnung oder doch eine geschlossene Einrichtung der Eingliederungshilfe in Bayern oder Schleswig-Holstein, weil der Berliner Senat aus falschverstandener Liberalität nicht in der Lage ist, sich um die Schwächsten in der Gesellschaft zu kümmern? Herr K. fühlt sich inzwischen aber ganz wohl im Krankenhaus und verweigert einen Umzug. „Nein, meine Suppe ess’ ich nicht!“ Nach einstündiger Helferkonferenz steigt er auf den Tisch und verlässt den Raum. Danach schiebt er einen Zettel unter der Tür hindurch, auf dem der grandiose Satz (literaturnobelpreisverdächtig!) zu lesen ist: „Ich verzichte auf Haustiere sämtlicher couleur und beantrage eine Pflanze!“ Bekanntlich ist es meine Aufgabe, dem Willen des Betreuten nach Möglichkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Herr K. „wohnt“ jetzt immer noch im Krankenhaus und hat eine Pflanze. Gestern hat er das erste Mal gesagt, dass er vielleicht doch jetzt lieber freiwillig in eine Wohngemeinschaft umziehen möchte. Vielleicht ist es doch ganz gut, dass die Struwwelpeterzeit vorbei ist, denke ich. Irgendwann fängt der Suppenkasper schon wieder von sich aus an zu essen. Aber was wird aus mir? Solange ich Betreuer bin, werde ich immer auch ein bisschen der Suppenkasper bleiben und es ist ja auch ganz gut, sich nicht zu ernst zu nehmen!

Beste Grüße von Herrn Ähm!