Ein Dialog zwischen Herrn Mückner und Herrn Klitschka
Eine Rechtliche Betreuung wird angeordnet auf der Grundlage des § 1896 BGB. Hier ist festgehalten, dass ein Rechtlicher Betreuer nur bestellt werden darf, wenn ein Betroffener auf Grund einer Krankheit oder Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Damit hat sich der BVfB bereits in der Vergangenheit auseinandergesetzt vgl. Gelbbuch 2018, Beiträge von Bienwald (Seite 35 ff.) und Klitschka (Seite 9 ff.). Bereits seit geraumer Zeit wird in dem Zusammenhang über die sogenannte unterstützende Entscheidungsfindung diskutiert, vgl. hierzu exemplarisch BTPrax 6/2013 Jürgen Thar: „Unterstützen vor Vertreten – methodische Grundlagen“. Bezug genommen wird in der Diskussion um unterstützende Entscheidungsfindung auf den Artikel 12 der UN-BRK, in dem es u.a. heißt:
„(3) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen.“
Für uns – den BVfB – ist daraus ersichtlich, dass es sich nur sehr eingeschränkt um eine Regelung für Betreute handelt, eher ist anzunehmen, dass sich diese Regelung (und der gesamte Artikel 12) auf behinderte Menschen bezieht, die in ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht oder nur wenig eingeschränkt sind.
Wir haben hierzu eine Diskussion mit Herrn Lars Mückner (Betreuungs-)Richter am Amtsgericht Duisburg und unter anderem Sachverständiger in der Arbeitsgruppe IV beim BMJV und Herrn Klitschka (Vorsitzender des BVfB) geführt, um diese Problematik aus verschiedenen Blickwinkeln zu vertiefen:
Herr Mückner, würden Sie die Einschätzung teilen, dass sich Artikel 12 der UN-BRK in erster Linie auf entscheidungsfähige Menschen mit Behinderungen bezieht?
Mückner: Oh, da müsste ich mir eine Deutungshoheit über diese Vorschrift anmaßen, die mir nicht zusteht. Ich habe dazu allerdings eine Rechtsansicht: Art. 12 bezieht sich zwar nicht nur auf Menschen, die entscheidungsfähig sind, aber er stellt klar, dass bei denjenigen, die noch entscheidungsfähig sind, ein Eingriff dergestalt, dass ein Vertreter bestellt wird, nicht erfolgen soll. Meines Erachtens steht dort: Unterstützung geht vor Stellvertretung.Für das, was der Betroffene selbst entscheiden kann, darf ein Rechtlicher Betreuer nicht bestellt werden. Wenn ein Rechtlicher Betreuer bestellt ist, darf der Betreuer Handlungen nicht vollziehen, die der Betroffene selbst erledigen kann. Das entspricht § 1896 Abs. 2 BGB, meines Erachtens eine gleichrangige Rechtsquelle zur Konvention. Und dass die Bestellung eines Rechtlichen Betreuers ein Eingriff in Rechte ist, auch wenn es von vielen Menschen als hilfreich und als Wohltat empfunden wird, lässt sich faktisch belegen: Kreditinstitute sprechen nicht mehr mit mir, teilweise werden Verträge gekündigt, an meinen Betreuer kann etwas zugestellt werden, bei dem ich die Annahme verweigern möchte, beteilige ich mich in einem Zivil- oder Verwaltungsverfahren, gilt der Betreute als geschäftsunfähig usw.. Mir ist bekannt, dass das maßgebliche Stimmen in der Wissenschaft gibt, die sagen, dass Stellvertretung nur ein Mittel der rechtlichen Besorgung der Angelegenheiten des Betroffenen ist. Hier bin ich anderer Ansicht. Unterstützende Entscheidungsfindung ist an sich erst einmal eine Aufgabe für Sozialarbeiter oder verwandte Berufsgruppen.
Klitschka: Der BVfB hat immer wieder betont, dass wir uns als Rechtliche Betreuer mit Vertretungsbefugnis sehen. Diese Sicht beinhaltet, dass unser Klientel, unsere Betreuten nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten zu besorgen. Ich behaupte, dass unsere Betreuten in der Regel nicht in der Lage sind, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen erfolgen oft situativ, aus einer Emotion heraus.
Herr Klitschka, § 1896 BGB bezieht sich aber ausdrücklich auf behinderte Menschen die ihre Angelegenheiten nicht selber besorgen können, es ist aber auch definiert „ganz oder teilweise“.
Klitschka: Die Rechtsprechung geht hier noch einen Schritt weiter, der BGH hat entschieden, dass eine Betreuung auch einzurichten ist, wenn zu erwarten ist, dass ein Betreuungsbedarf auftritt.
Mückner: Der BGH grenzt hier etwas ab – es gibt keine Beschlüsse mit Eingriffsqualität auf Vorrat oder auf Verdacht. Im Moment der Entscheidung muss feststehen, dass es einen konkreten Vertretungsbedarf gibt oder dass er zukünftig nach dem jetzigen Stand der Ermittlung absehbar ist. Dass es unter Umständen zukünftig einen Bedarf geben kann ist zunächst aber kein Anlass, heute in die Selbstbestimmung einzugreifen.
Noch mal zurück zur Entscheidungsfindung. Wie würden Sie die Entscheidungsfindung im Betreuungsprozess sehen?
Klitschka: Ein Betreuer braucht die Unterstützung durch den Betreuten, um eine Entscheidung zu treffen, die den Willen des Betreuten wider-spiegelt. Hier wäre der Begriff unterstützende Entscheidungsfindung durchaus angebracht. Ein Betreuer trifft seine Entscheidung in Bezug auf Angelegenheiten des Betreuten nicht in seinem Büro, er trifft die Entscheidung im Gesprächsprozess mit dem Betreuten.
Mückner: Ha! Ein stupender Ansatz – der Betroffene unterstützt den Betreuer darin, die richtige Entscheidung zu finden! Eine echt interessante Sicht, die nach meinem Kenntnisstand im bisherigen Diskussionsprozess nicht behandelt wird. Klasse! Da ist ja auch etwas dran – der Betroffene bringt den Betreuer zu bestimmten Entscheidungen.
Klitschka: Es wird leider in den Diskussionen immer unterstellt, dass Betreuer gegen den Willen des Betreuten oder ohne Erkundung des Willens des Betreuten entscheiden. Das ist in der Regel nicht der Fall, Betreuer versuchen im Gespräch mit den Betreuten die notwendigen Entscheidungen zu erarbeiten.
Mückner: Das entspricht meiner Berufserfahrung. Die meisten Betreuer arbeiten so. Entscheidungen gegen den Willen sind selten. Zum einen steht es so im Gesetz, zum anderen macht es bestimmt auch zufriedener, im Einklang mit dem Betroffenen zu handeln, nicht immer gegen ihn anzukämpfen. Das macht schlechte Laune und ermüdet.
Wenn eine Entscheidung getroffen ist, was ergibt sich daraus?
Klitschka: Ist die Entscheidung getroffen ergibt sich das Problem der Umsetzung und Durchsetzung der Entscheidung. Hier wird es in der Regel notwendig sein, dass der Betreuer im Sinne des § 1902 BGB stellvertretend handelt. Hier hatte Herr Mückner in seinem Referat auf dem TdfBB (Tag der freien Berufsbetreuer) ausgeführt: „Ist ein Mensch in der Lage seine Interessen zu vertreten (oder wirksam zu bevollmächtigen), darf das Gericht keinen Betreuer bestellen.“
Mückner: Genau, wie eben schon besprochen, wer in der Lage ist, zutreffende Einsichten in die Wirklichkeit zu gewinnen, wichtige Dinge gegeneinander abzuwägen und eine ordnungsgemäße Planung für die Zukunft zu treffen, der darf auch objektiv unvernünftige Dinge tun. Es muss immer festgestellt werden, dass eine Erkrankung zu einer Störung des Denkens, des Fühlens und des Handelns führt, die sich bei einer einzelnen Entscheidung auswirkt. Nicht das Vorhandensein der Erkrankung ermöglicht es, gegen den Willen des Betroffenen zu entscheiden, sondern die Auswirkung der Erkrankung auf eine konkrete Entscheidung. Und hier sieht das Gesetz eben auch vor, dass der Betreuer gegen den Willen des Betroffenen entscheidet, wenn es unvermeidlich ist und dem Wohl des Betreuten dient. Ultima Ratio, aber zulässig. Und meines Erachtens aus Gründen des Erwachsenenschutzes auch nötig.
Klitschka: Die Diskussion um die Selbstbestimmung des Betreuten geht fehl, weil sie nicht berücksichtigt, dass im § 1896 BGB die Grundlagen geklärt wurden. Wer in der Lage ist seine Entscheidungen mit Hilfe von Beratung zu treffen und diese Entscheidungen mit oder ohne Hilfe auch zu vertreten, benötigt keine Hilfe durch einen rechtlichen Be-treuer. Die immer wieder bestätigten 10% der Betreuten, die in der Lage wären mit anderen Hilfen zu guten Ergebnissen zu kommen, benötigen allerdings im Einzelfall eine Betreuung, weil die anderen Hilfen nicht zur Verfügung stehen oder die Verfahrensabläufe so kompliziert sind, dass ein Mensch mit Defiziten bei der Durchsetzung seiner Rechte überfordert ist und scheitert bzw. scheitern würde. Hier besteht im Sozialministerium Handlungsbedarf im Sinne der UN-BRK.
Mückner: Das sehe ich auch so. Die UN-BRK verpflichtet den Staat, Vorkehrungen zu treffen, die zur Rechtsdurchsetzung führen, ohne dass ein Vertreter bestellt wird. In wie vielen Fällen ein Rechtlicher Betreuer bestellt wird, obwohl bei einer gebotenen Unterstützung auch andere Problemlösungen möglich wären, das weiß ich nicht, aber die IGES-Studie nennt Werte zwischen 5 und 15 %. Die UN-BRK richtet sich nicht an den Betreuer.
Herr Klitschka, Sie hatten angesprochen, dass Entscheidungen oft situativ fallen. Können Sie das erläutern
Klitschka: Dieser Aspekt der Diskussion um Entscheidungsfindungen innerhalb der Betreuung (siehe oben für den Betreuer) wurde von Herrn Lanzerath ebenfalls auf dem TdfBB angesprochen. Entscheidungen ändern sich mit den Lebenssituationen. Dies trifft umso mehr auf Menschen mit Einschränkungen zu, die sich je nach der aktuellen Situation entscheiden und denen der Überblick über die Folgen fehlt. Dies berücksichtigt der Betreuer bei seiner Entscheidung, bei der Einbeziehung des Willens des Betreuten. Hier geht die Diskussion in die Richtung Wohl und Wille; der Wille des Betreuten widerspricht manchmal seinem Wohl – wobei ich hier Wohl als den längerfristigen Lebensentwurf sehe, den Willen als situativ. In diesen Situationen kommt es zu Entscheidungen des Betreuers gegen den (momentanen) Willen des Betreuten.
Mückner: Wenn ich krankheitsbedingt nicht ermessen kann, was meine momentane Entscheidung für mich langfristig bedeutet, kann mein Stellvertreter für mich entscheiden, um Schäden abzuwehren. Zum Situativen kommt noch etwas Langfristiges: Der Mensch wandelt sich. Mit ihm wandeln sich seine Wertvorstellungen, und der Betreuer darf den Betroffenen nicht auf seine Ansicht festnageln, die er vor 10 Jahren, 10 Monaten oder 10 Tagen hatte; wie alle Menschen dürfen auch Menschen mit einer Erkrankung, die ein Betreuungsbedürfnis erzeugt, ihre Ansicht ändern. Bevor das hier untergeht: Wir sprechen hier über theoretische Konstellationen – die volle Entscheidungsfähigkeit einerseits und die Notwendigkeit einer echten Stellvertretung andererseits. Da lässt sich die Antwort leichter finden.Allerdings dürfte es häufig Fälle geben, in denen der Rechtliche Betreuer innerhalb der persönlichen Beziehung durchaus auf die Willensbildung des Betroffenen Einfluss nimmt, und ihn auch bei der Entscheidungsfindung unterstützt, mit ihm etwas zusammen erarbeitet, wie Herr Klitschka gerade gesagt hat. Oder ihn zumindest von der Richtigkeit der in Stellvertretung getroffenen Entscheidung überzeugt. Die Übergänge von Stellvertretung in einen unterstützenden Prozess sind in der Praxis viel fließender als bei den hier besprochenen ideellen Fallbeispielen. Im Fall der Entscheidungsfähigkeit des Betroffenen darf der Betreuer aber meines Erachtens nicht statt des Betroffenen entscheiden. Und im Fall der krankheitsbedingten Entscheidungsunfähigkeit darf der Rechtliche Betreuer auch anders entscheiden, als der Betroffene es sich wünscht.
Wenn wir das Gespräch zusammenfassend reduzieren, würden Sie zustimmen, dass die Entscheidungsfindung in der Betreuung im Gespräch zwischen dem Betreuten und dem Betreuer erfolgt, und der Betreuer die Entscheidung dann stellvertretend umsetzt – Entscheidungsfindung also nicht allein vom Betreuten zu sehen ist.
Klitschka: Ja. Aber es muss eingegrenzt werden, dass der Betreuer das Wohl des Betreuten, die Nachhaltigkeit im Auge haben muss. Bei situativen Entscheidungen des Betreuten darf bzw. muss der Betreuer sich über den aktuellen Willen des Betreuten hinwegsetzen.
Mückner: Das halte ich nach § 1901 Abs. 3 BGB für zulässig, wenn sich belegen lässt, dass der aktuelle Wille krankheitsbedingt beeinflusst ist und dass bei Berücksichtigung der Wünsche existenzielle Rechtspositionen aufgegeben würden. Der Klassiker: Am Ende des Geldes ist noch zu viel Monat übrig, und dann kommt der Hunger. Für den Betreuer ist so etwas eine Herausforderung – festzustellen, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung gegen den Willen des Betroffenen wirklich gegeben sind.
Lars Mückner, Jg. 1966, Richter am Amtsgericht, Familiengericht und Betreuungsgericht
Richter seit 1998, Familiensachen seit 1999, Betreuungssachen seit 2002. Herr Mückner begleitet die Entwicklungen im Betreuungsrecht seit mehreren Jahren durch Lehrtätigkeit, Vorträge und Vertretung in verschiedenen Gremien. Seiner Meinung nach dient das Betreuungsrecht der Berechtung von Menschen, aber auch der Wahrung elementarer Grundrechtspositionen. Gut geführte Rechtliche Betreuung ist oft die einzige Möglichkeit zur Rechtswahrung von Menschen, die sonst keine Lobby haben. Rechtliche Betreuung sieht er in Einzelfällen aber auch teils als süßes Gift, teils als eine planwidrige Antwort auf fehlende Unterstützung durch die Leistungsverwaltung.
Walter Klitschka, Jg. 1950, Erster Vorsitzender des Bundesverbandes freier Berufsbetreuers
Vorsitzender des Bundesverbandes freier Berufsbetreuer seit 2013, Berufsbetreuer seit 1998, hat derzeit 46 Betreuungen mit dem Schwerpunkt Suchterkrankung.
Sein politischer Leitsatz: „Berufsbetreuer sind die rechtlichen Vertreter des Betreuten und leisten keine soziale Arbeit. Sie sind bemüht, stets einvernehmlich mit den Betreuten zu arbeiten. Entscheidungen gegen den Willen der Betreuten sind die Ausnahme.“
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