Frau Eff… hat Angst, zu verarmen

Frau Eff, Berufsbetreuerin… hat Angst, zu verarmen

In den letzten Wochen sind meine einzigen vier alten Damen im Heim verstorben. So ist das Leben, ihr Tod kam nicht überraschend, sie waren alle vier sehr alt und haben dankbar auf ein langes Lebens zurückgeschaut. Ihre Plätze im Pflegeheim waren schnell mit neuen Bewohnern belegt. Nur bei mir fehlen seitdem vier unkomplizierte Betreuungsfälle, die ich im Rahmen der sogenannten Mischkalkulation dringend als Ausgleich für all die chaotischen jungen Klienten mit Doppeldiagnosen brauche.

Diese Klienten, die Räumungsklage im Nacken, den Wahnsinn im Herzen, den Verstand in Schrittgeschwindigkeit, ziehen eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Meistens komme ich noch nicht einmal mit der doppelten mir zugebilligten Stundenzahl aus, um die Probleme dieser Menschen einigermaßen unter Kontrolle zu halten.

Vier Heim-Betreuungen weniger bedeuten auch 350 Euro weniger Einkommen im Monat. Und sofort habe ich Angst, zu verarmen. Vierzig Fälle war immer mein unteres Limit, die müssen sofort aufgefüllt werden, wie soll ich sonst die freiwillige Rentenzahlung hinkriegen, und Urlaub und Sommerreifen und neuen Drucker, und das Benzin wird auch immer teurer.
Aber vier neue Fälle bedeuten auch: Vier neue Leben in meinem Leben, vier Geschichten, vier große Hoffnungen auf eine Verbesserung. Im schlimmsten Fall sind im Paket enthalten auch vier oder sechs oder zehn neue Angehörige, die sich eine Betreuerin als eine Art Superwoman vorstellen, die alle in den letzten Jahrzehnten aufgetürmten Schwierigkeiten in wenigen Wochen wegzaubern kann. Ich bekomme ganz schlechte Laune, wenn ich nur daran denke, was da auf mich zukommen könnte.

Also denke ich: Vielleicht muss ich ja keine neuen Fälle annehmen, ich mache einfach mal Pause. Der Sommer ist nah, ich könnte endlich mal wie geplant Gesangsunterricht nehmen und mein Bienen-Projekt weiter verfolgen. Ein bisschen weniger arbeiten, dafür häufiger Freunde sehen, mehr lesen. Geld wird überschätzt, Zeit ist der neue Reichtum. Die Aussicht auf einen ruhigen Sommer schmeckt gut, mein Mann ermutigt mich ausdrücklich und ich ordne die Akten im Schrank so, dass die vier Lücken von den verstorbenen Heimbewohnern gar nicht auffallen.

Diese Selbstüberlistung funktioniert allerdings nur so lange, wie nicht jemand nettes anruft und dringend eine Betreuerin sucht. Die freundliche Mitarbeiterin vom Betreuten Wohnen, mit der ich so prima zusammenarbeite, der engagierte Oberarzt aus der Psychiatrie, die immer gut gelaunte Rechtspflegerin. Die müssen nur sagen, dass ich genau die Richtige wäre, für Frau X oder Herrn Y, wie gerne sie mir den Fall übertragen würden und schwups, habe ich wieder einen neuen Klienten auf dem Tisch. Wobei sich oft schnell herausstelle, dass sich hinter „nicht viel zu tun, nur ein Rentenantrag zu stellen“ eine dicke Verschuldung verbirgt oder eine drohende Räumungsklage oder ein Widerwillen gegen alle Psychopharmaka oder eine verlauste Haustiersammlung.
Aber eigentlich ist es genau dieser Überraschungseffekt, der mich auch neugierig macht. Jeder neue Klient ist nicht nur viel neue Arbeit, sondern auch ein Bündel interessanter Geschichten. Andere müssen ins Kino gehen, um schillernde Persönlichkeiten kennenzulernen. Ich werde dafür auch noch bezahlt. Und so übernehme ich wieder einen neuen Betreuungsfall, fahre mit dem Schreibblock zum Erstgespräch, sehe an der Wand ein seltsames Gerät und frage „Was ist das denn?“ „Das ist ein Sextant“, sagt Herr Z. und wartet nur darauf, dass ich mehr hören will. Und ich will. Von Madagaskar erzählt der Mann an diesem Nachmittag, vom Essenkochen auf hoher See auf 1,5 Quadratmetern, von großen Fischen und fauligem Brot, von der Bordkatze, vom Nachhausekommen und vom Wegfahren. Herr Z. ist Heimbewohner, das bringt unterm Strich vielleicht 40 Euro netto im Monat, aber seine Geschichten sind unbezahlbar.