Frau Eff… schreibt an ein Kind

Frau Eff, Berufsbetreuerin… schreibt an ein Kind

Lieber Justin,
ich bin jemand, der mit kleinen Kindern nicht viel anfangen kann. Mit Säuglingen schon gar nicht. Und doch reißt es mir am Herzen, wenn ich Dich so da liegen sehe. 840 Gramm, kaum schwerer als acht Tafeln Schokolade, überall Schläuche und Pflaster und Kabel zu großen Maschinen. Ich wusste auch gar nicht, dass es so kleine Windeln gibt. Vor fünf Tagen bist Du auf die Welt gekommen, ziemlich plötzlich. Der Chefarzt der Kinderklinik sagt, Du hast eine Chance zu überleben. In welchem Zustand, mit welchen Behinderungen und Einschränkungen, ist derzeit noch nicht absehbar.

Ich bin die Betreuerin Deiner Mutter. Sie steht mit verzweifeltem Gesichtsausdruck vor dem Kasten, in dem Du liegst. Anfassen will sie Dich nicht. Du bist nicht das, was sie sich so vorgestellt hatte. Sie wollte kein zerbrechliches Problem, sie wollte ein lachendes Kind. Jemand, der in die süßen Kindersachen passt, die sie gekauft hat. Deine Mutter wollte „ein gesunder, kräftiger Junge!“ sagen können, wenn sie jemand nach ihrem Sohn fragt. Im Moment erkennt sie keinen Sohn in Dir. Du bist ihr unheimlich. Sie hat Dir schon vor vielen Wochen einen Namen gegeben, „Dschasstin“ sagt sie, weil sie Justin Biber so toll findet. Aber sie kann den Namen nicht aussprechen, als sie ihn von der Geburtsurkunde ablesen will. „Der soll nicht so komisch geschrieben werden“ sagt sie. „Ja, wie denn?“ fragt die Standesbeamte sie.

Ich glaube, Deine Mutter hofft noch, dass Du über Nacht zu einem richtigen, echten Baby wirst und sie Dich dann endlich überall vorzeigen kann. Möglicherweise hofft sie auch, dass wir uns das mit der Mutter-Kind-Einrichtung anders überlegen, in die sie einziehen soll, sobald Du stabil genug bist, um das Krankenhaus zu verlassen. Deine Mutter hat viele Träume, und neben ihren Träumen auch viele Wünsche und Hoffnungen und Vorstellungen und Bilder. Was sie kaum hat, sind Augen für die Realität. Die haben andere dafür umso mehr, auch wenn sie kaum etwas mit Dir und Deiner Mutter zu tun haben. Die Standesbeamtin, der Mann von der Krankenkasse, die Sachbearbeiterin beim Sozialamt, alle wollen sie von mir wissen, ob man denn da nichts machen könne, so jemand wie Deine Mutter dürfe doch keine Kinder bekommen. Selbst der Arzt in der Kinderklinik windet sich in Begriffen wie „sollte“ und „müsste“ und beschwört die gesellschaftliche Verantwortung. Viele fragen auch, ob ich als Betreuerin die Verhütungssache nicht doch etwas rigoroser umsetzen könne, wenigstens zukünftig. Ich gebe mir dann Mühe, die Sache zu Ende zu diskutieren, damit alle wissen, wovon wir reden:

In Deutschland ist die Sterilisation eines Menschen im angeblichen Interesse der Allgemeinheit verboten. Eine Sterilisation oder auch die zwangsweise Verhütung durch die „Dreimonatsspritze“ oder Ähnliches gegen den Willen der Betroffenen verstößt gegen die Menschenrechte. Ich erwarte eigentlich auch von jedem Bürger dieses Landes, dass er wenigstens so viel Geschichtsbewusstsein hat, dass ihm die historischen Hintergründe bekannt sind. Und wenn das nicht reicht, dann sollten sich diese Besserwisser mal konkret vorstellen, was sie mir mit ihren Bedenken und Andeutungen nahelegen. Meine Klientin, Deine Mutter, wird niemals freiwillig darauf verzichten, durch eine Schwangerschaft ein Maximum an positiver Aufmerksamkeit zu bekommen. Ihr Wille müsste mit Gewalt gebrochen werden. Sie würde brüllen, weinen und schreien, während ihr ein Arzt die Spritze gibt oder gar eine Operation einleitet. Das ist kein schönes Bild. Das wollen wir alle nicht. Und deshalb müssen wir gemeinsam damit leben, dass Freiheit manchmal ausgehalten werden muss. Von mir, von den anderen, von Deiner Mutter, und letztendlich auch von Dir. Möge das Leben gut zu Dir sein, Kleiner.