von RA Dr. Jörg Tänzer, Fachlicher Geschäftsführer des Bundesverbandes freier Berufsbetreuer e.V.
Für das deutsche Sozialrecht sei die UN-Behindertenrechtskonvention rechtlich bedeutungslos; ohne das radikalisierte Verständnis von Inklusion wäre sie – angesichts des bundesrepublikanischen Versorgungsniveaus – auch politisch tot, sagt Sozialrechtsprofessor Ernst-Wilhelm Luthe.
Für das Betreuungsrecht fordert der UNO-Fachausschuss in seinen Empfehlungen zum deutschen Staatenbericht zur Umsetzung der Konvention die Bundesrepublik gleich zu einem völligen Systemwechsel auf: alle Formen der ersetzenden Entscheidungsfindung sollen abgeschafft und durch ein System der unterstützenden Entscheidungsfindung ersetzt werden.
Nachdem die deutsche Rechtsprofessorin Theresia Degener ihre Fachausschusskollegen über das deutsche Betreuungsrecht informiert haben dürfte, ist davon auszugehen, dass die Forderung des Fachausschusses ernst gemeint ist und nicht mehr auf Unkenntnis der deutschen Rechtslage beruht: Es soll das System abgeschafft werden, das mit seinem strikten Erforderlicheitsprinzip unter allen rechtsstaatlichen Systemen auf der Welt die Rechte von Menschen mit Behinderung am Weitestgehenden schützt!
Wieso bleibt der UNO-Fachauschuss dabei, den Gesetzgeber zu einem Systemwechsel aufzufordern, nachdem die Bundesregierung immer betont hat, das deutsche Betreuungsrecht basiere bereits weitgehend auf dem Prinzip der unterstützenden Entscheidungsfindung?
Die UNO-Behindertenrechtskonvention ist als völkerrechtliche Norm nur ein einfaches Gesetz und damit lediglich eine Hilfe zur Auslegung der Grundrechte in der Verfassung sowie des Gesetzesrechts. Die Empfehlungen des Fachausschusses sind somit eine Auslegungshilfe für eine Auslegung des deutschen Behindertenrechts – das das Ziel der Konvention, das Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, bereits weitgehend verwirklicht hat. Die Fachausschussempfehlungen sind dagegen keine verbindliche Vorgabe für den deutschen Gesetzgeber, wie diejenigen meinen, die sich im Rahmen ihrer Interessenvertretung auf die Konvention berufen.
Der Betreuungsrechtsgesetzgeber ist jedoch an das Grundgesetz und seinen obersten Wert, den Schutz der Menschenwürde, gebunden. Die Menschenwürde hat zwei Dimensionen, das Recht auf Selbstbestimmung und die Pflicht des Staates, Vorkehrungen zum Schutz der Menschen zu treffen, die zur selbstbestimmten Entscheidungen nicht in der Lage sind (und auch nicht mit intensiver sozialpädagogischer Zuwendung dazu befähigt werden können).
Wie diese beiden Dimensionen der Menschenwürde in Einklang zu bringen sind, führt das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung, zuletzt zur Einschränkung der Zwangsunterbringung, immer wieder eindrucksvoll vor. Der UNO-Fachausschuss ignoriert jedoch die Schutzdimension der Grundrechte im deutschen Grundgesetz und betont ausschließlich das Selbstbestimmungsrecht, ohne dabei die Konsequenzen für die Betroffenen zu erwägen. Wie z.B. bisherige Mitarbeiter von Werkstätten für behinderte Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor Ausbeutung geschützt werden sollen, wenn die Werkstätten, wie vom Ausschuss gefordert, aufgelöst werden: darüber wird in den Empfehlungen kein Wort verloren.
Selbstbestimmung und Schutz zum Ausgleich zu bringen heißt auch weiterhin: Menschen, die trotz Behinderung entscheidungsfähig sind, bedürfen nur der Beratung und Unterstützung. Wer wegen einer Wahnerkrankung, Demenz im fortgeschrittenen Stadium oder mittelgradiger geistiger Behinderung keine Entscheidungen treffen kann oder als deren Folge die Gesundheit oder andere Rechtsgüter so erheblich gefährdet, dass die Menschenwürde beeinträchtigt ist, für den müssen Betreuer im erforderlichen Umfang Entscheidungen treffen oder Rechtseingriffe einleiten.
Wer aber hat ein Interesse daran, den Schutzauftrag des Grundgesetzes auszublenden und die rechtliche Betreuung abzuschaffen, jedenfalls ihre Kernkompetenzen: die Befugnisse zum stellvertretenden Handeln und der Initiierung einer geschlossenen Unterbringung sowie des Einwilligungsvorbehalts?
– Die Länderjustizminister sind ihrem Ziel der Kostenbegrenzung durch Diskreditierung der rechtlichen Betreuung und Blockade ihrer qualitativen Weiterentwicklung näher gekommen: nur eine vermiedene Betreuung ist eine gute Betreuung, weil sie dann nichts kostet. Vor allem (unkontrolliert agierende) Vorsorgebevollmächtigte und „andere Hilfen“ – selbst wenn diese als Folge von Sparmaßnahmen nur noch auf dem Papier existieren – verwirklichen das Selbstbestimmungsrecht behinderter Menschen, Betreuer beeinträchtigen es hingegen. Diese Realitätsverdrehung findet in der Öffentlichkeit und auch im Betreuungswesen zunehmend Anhänger.
– Der Behindertenhilfe sind rechtliche Betreuer, die die Interessen ihrer Klienten im Zweifel auch gegenüber dem Träger einer Behinderteneinrichtung oder deren Eltern vertreten, schon lange lästig. Unterstützende Entscheidungsfindung bedarf keiner durch die Justiz gewährleisteten Unabhängigkeit, das können auch weisungsunterworfene oder jedenfalls ökonomisch abhängige Kräfte leisten.
– Die Berufsbetreuer im BdB, die sich in erster Linie als Sozialarbeiter verstehen und die Anwendung von Betreuerbefugnissen zum Schutz der Betroffenen als unangenehm empfinden, träumen davon, endlich im vollen Einvernehmen mit ihren Klienten handeln und so Konflikte vermeiden zu können. Dann könnten sie auf einem Markt der Unterstützungsleistungen ihre Kunden akquirieren und würden vielleicht sogar so gut wie die Einzelfallhelfer der Eingliederungshilfe bezahlt – je weniger Verantwortung und je geringer das Haftungsrisiko, desto besser vergütet.
Eine merkwürdige Allianz.
Zu unterstützen ist jedoch die Forderung des Fachausschusses, zur Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts professionelle Qualitätsnormen für Mechanismen der unterstützten Entscheidung zu entwickeln. Betreuer müssen qualifiziert werden zu unterscheiden, wann Beratung und Unterstützung ausreicht und wann stellvertretendes Handeln erforderlich ist. Dazu bedarf es gesetzlicher Zulassungskriterien zum Beruf, Qualitätskriterien und fachliche Standards, angemessene Vergütungssätze und Stundenpauschalen, also mehr vergütete Zeit für die einzelne betreuungsbedürftige Person.