Wie die vom nordrhein-westfälischen Justizministerium vorgeschlagene Strukturreform im Betreuungswesen aussehen und durchgesetzt werden könnte
Von Dr. Jörg Tänzer, fachlicher Geschäftsführer des Bundesverbandes freier Berufsbetreuer
Die künftige Landesregierung von Nordrhein-Westfalen strebt zur Durchsetzung des Erforderlichkeitsprinzips im Betreuungswesen „Strukturverbesserungen“ an. Die auch vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge geforderte umfassende „Stärkung“ der örtlichen Betreuungsbehörden ist der entscheidende Hebel, die seit 1992 entwickelten Standards im Betreuungswesen massiv abzusenken, um die Landeshaushalte zu entlasten. Durch die beabsichtigte Vorenthaltung von rechtlicher Betreuung und betreuungsvermeidender Hilfen wird das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen nicht gestärkt, sondern erheblich eingeschränkt: weder Länder noch Kommunen haben die Absicht, auch nur einen Teil der einzusparenden Betreuervergütungen tatsächlich für ‚andere Hilfen‘ zu verwenden.
Ob sich das Modell des Deutschen Vereins durchsetzt, nach dem die örtlichen Betreuungsbehörden ein Viertel aller Betreuungsfälle einer gerichtlichen Prüfung vorenthalten sollen, indem die Betroffenen auf – tatsächlich nicht vorhandene – andere Hilfen verwiesen oder nach dem Vorschlag des Justizministerium NRW die Länder den kommunalen Betreuungsbehörden gleich alle wesentlichen Entscheidungsbefugnisse im Betreuungswesen übertragen würden, ist unerheblich. In beiden Fällen würden die Bedürfnisse behinderter Menschen nach rechtlicher Vertretung und Unterstützung ohne Rechtseingriffe zum Spielball kommunaler Haushaltszwänge – wenn die Entscheidung darüber nicht mehr unabhängige Richter, sondern weisungsunterworfene, auf Kosteneffizienz verpflichtete kommunale Bedienstete treffen. Die Betreuungsstellen der Landkreise und Städte sind die am allerwenigsten geeigneten Institutionen, den Anspruch der Betroffenen auf insbesondere kommunale Sozialleistungen geltend zu machen und durchzusetzen – und deshalb die erste Wahl der Haushaltspolitiker der Länder als Träger einer Strukturreform.
Gegen eine Reduzierung der Zahl der Berufsbetreuungen um 15-20 % hat der Bundesverband freier Berufsbetreuer nichts einzuwenden, wenn der Bedarf der bisher betreuten Menschen nach Beratung und Unterstützung tatsächlich in anderer Weise gewährleistet wird. Wir verteidigen nicht den Fallzahlenbestand unserer Mitglieder, sondern das Recht der betroffenen Menschen auf bedarfsgerechte Hilfe, auch durch rechtliche Betreuung.
Wie eine Strukturreform im Betreuungswesen aussehen und vorbereitet werden könnte, habe ich in einem fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2016 skizziert, dem realistischen Zeitpunkt des Inkrafttretens einer umfassenden Strukturreform. Dieses, aus Betroffenensicht negativste – und an einigen Stellen satirisch zugespitzte – Szenario muss nicht genauso eintreten. Es ist aber die Annahme plausibel, dass die Länder vom Bund verlangen werden, ihnen gesetzlich freie Hand dafür zu lassen, sich gegen einen festen Zuschuss an die Kommunen vom lästigen Kostentreiber Betreuungswesen weitgehend freikaufen zu können – und dass die Kommunen landesgesetzlich den notwendigen Handlungsspielraum erhalten, mit der Bestellung nur noch einer unabweisbaren Mindestzahl vergüteter Betreuungen so viel Kosten wie möglich einzusparen.