BFH, Urteil vom 22.10.2009, Az. III R 50/07
Für ein arbeitsloses, behindertes Kind besteht ein Anspruch auf Kindergeld, wenn die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich dafür ist, dass es keine Arbeit findet und deshalb außerstande ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Entscheidung, ob eine erhebliche Mitursächlichkeit gegeben ist, hat das Finanzgericht unter Würdigung der Umstände des einzelnen Falles zu treffen. Ist keine erhebliche Mitursächlichkeit anzunehmen, besteht ein Anspruch auf Kindergeld auch dann, wenn die Einkünfte, die das Kind aus einer trotz der Behinderung möglichen Erwerbstätigkeit erzielen könnte, nicht ausreichen würden, seinen gesamten Lebensbedarf (existenziellen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) zu decken.
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3
1. Für ein arbeitsloses, behindertes Kind besteht ein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, wenn die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich dafür ist, dass es keine Arbeit findet und deshalb außerstande ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Entscheidung, ob eine erhebliche Mitursächlichkeit gegeben ist, hat das FG unter Würdigung der Umstände des einzelnen Falles zu treffen (Bestätigung des Senatsurteils vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638).
2. Ist keine erhebliche Mitursächlichkeit anzunehmen, besteht ein Anspruch auf Kindergeld auch dann, wenn die Einkünfte, die das Kind aus einer –trotz der Behinderung möglichen– Erwerbstätigkeit erzielen könnte, nicht ausreichen würden, seinen gesamten Lebensbedarf (existenziellen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) zu decken.
amtlich
III R 50/07
2 K 2675/04 FG Köln
22.10.2009
Urteil
Die im Jahr 1978 geborene Tochter (T) des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) ist seit 1986 zu 50 % schwerbehindert. Nach dem Besuch des Wirtschaftsgymnasiums und nach einem Berufspraktikum wurde sie an der Berufsfachschule für Technik zur staatlich geprüften Gestaltungstechnischen Assistentin ausgebildet. Seit dem 28. Juni 2001 war T bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet. Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder andere finanzielle Leistungen erhielt sie nicht. Seit Februar 2003 ist T verheiratet.
Im Oktober 2001 beantragte der Kläger unter Vorlage des Schwerbehindertenausweises von T Kindergeld für den Zeitraum 1. September 2001 bis 31. Dezember 2003. T sei seit Juli 2001 arbeitslos und habe weder Einkünfte noch Bezüge.
Nachdem die um Stellungnahme gebetene Reha/SB-Stelle nach amtsärztlicher Begutachtung zu der Einschätzung gekommen war, T sei in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben, lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) den Kindergeldantrag mit Bescheid vom 6. Dezember 2003 ab. Der Einspruch des Klägers blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es war der Auffassung, die körperliche Behinderung von T führe nicht dazu, dass sie sich nicht selbst unterhalten könne. Nach dem –im finanzgerichtlichen Verfahren eingeholten– amtsärztlichen Gutachten seien die der Behinderung zugrunde liegenden Erkrankungen problemlos zu behandeln. T habe erfolgreich das Wirtschaftsgymnasium besucht und anschließend in Vollzeit ein Praktikum und die Ausbildung an der Berufsfachschule absolviert. Daraus habe die Sachverständige zutreffend gefolgert, dass T trotz ihrer Behinderung wenigstens einer Tätigkeit von 20 Stunden in der Woche hätte nachgehen können. Bei einer entsprechenden Berufstätigkeit hätte T mit dem Verdienst ihren gesamten notwendigen Lebensunterhalt decken können. Außerdem sei der Kläger seit der Heirat von T im Februar 2003 ihr gegenüber nicht mehr unterhaltspflichtig, so dass dem Kläger schon aus diesem Grund ab Februar 2003 kein Kindergeld für T mehr zu gewähren sei.
Mit seiner Revision trägt der Kläger im Wesentlichen vor, die Annahme des FG, T könne sich selbst unterhalten, beruhe auf mangelnder Sachaufklärung. Aufgrund ihrer Schwerbehinderung mit einem Grad von 50 wegen insulinpflichtiger Diabetes mit beginnender Nierenschädigung und Bluthochdruck, zu der eine starke Fehlsichtigkeit hinzukomme, könne T keine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts ausüben. Trotz intensiver Bemühungen und Inanspruchnahme der Bundesagentur für Arbeit habe sie keine entgeltliche Tätigkeit gefunden. Auch habe das FG nur pauschal ausgeführt, eine 20-stündige Tätigkeit könne den gesamten Lebensbedarf decken. Es hätte Beweis darüber erheben müssen, wie hoch der Lebensbedarf von T gewesen und welcher Verdienst objektiv zu erwarten gewesen sei. Ferner hätte das FG klären müssen, ob es den Vorgaben entsprechende Arbeitsplätze gegeben hätte und ob T einen solchen Arbeitplatz auch mit ihrer Behinderung bekommen hätte.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG, den Ablehnungsbescheid vom 6. Dezember 2003 sowie die Einspruchsentscheidung vom 15. April 2004 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, für die Monate September 2001 bis Dezember 2003 Kindergeld für T festzusetzen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG ( § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO –).
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht für ein volljähriges Kind unter weiteren –hier nicht streitigen– Voraussetzungen ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
a) Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638, unter II.1.a, m.w.N.) ist ein behindertes Kind außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen gesamten notwendigen Lebensunterhalt nicht mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln bestreiten kann. Der existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise zusammen aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), der sich an dem maßgeblichen Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG orientiert, und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Werden die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den Mehrbedarf dienen.
b) Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B. mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ein Anspruch auf Kindergeld besteht nur dann, wenn die Behinderung nach den Gesamtumständen des Einzelfalles in erheblichem Umfang mitursächlich dafür ist, dass das Kind nicht seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit bestreiten kann (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638, unter II.1.b c, m.w.N.).
c) Nicht ursächlich ist die Behinderung in der Regel bei einem Grad der Behinderung von weniger als 50. Bei einem Grad der Behinderung von 50 –wie im Streitfall– oder mehr müssen besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint. Ist im Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch oder im Feststellungsbescheid das Merkmal „H“ (hilflos) eingetragen, kann grundsätzlich eine Ursächlichkeit angenommen werden (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638, unter II.1.b, m.w.N.).
d) Als Indiz dafür, ob das Kind seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit bestreiten kann, kommen Feststellungen in ärztlichen Gutachten –der Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen– in Betracht, in welchem Umfang das Kind nach Art und Schwere seiner Behinderung in der Lage ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638, unter II.2.a, m.w.N.).
e) Ein Indiz für eine Vermittelbarkeit des behinderten Kindes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kann z.B. auch eine –nicht behinderungsspezifische– Berufsausbildung sein (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638, unter II.2.d).
f) Steht das behinderte Kind der Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit zur Verfügung und kann die Agentur in einem mittelfristigen Zeitraum keine Stellenangebote benennen oder hat sich das behinderte Kind mittelfristig mehrfach erfolglos beworben, wird dies in der Regel gegen dessen Vermittelbarkeit sprechen und somit dafür, dass die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich war für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638, unter 2.e).
2. Die Entscheidung über die Mitursächlichkeit hat das FG als Tatsacheninstanz unter Berücksichtigung aller Umstände des einzelnen Falles und unter Abwägung der für und gegen eine Mitursächlichkeit sprechenden Indizien zu treffen. Das Urteil des FG, das vor dem Grundsatzurteil des Senats in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638 ergangen ist, war aufzuheben, weil das FG bei seiner Entscheidung nicht alle zu berücksichtigenden Umstände und Indizien in seine Würdigung einbezogen hat. Es hat daher nicht in der gebotenen Gesamtwürdigung geprüft, ob die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich dafür war, dass T keinen Arbeitsplatz gefunden hat. Insbesondere reicht die pauschale Feststellung allein nicht aus, T hätte bei einer Anstellung mit einer Arbeitszeit von 20 Wochenstunden in ihrem erlernten Beruf mit dem Arbeitslohn ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Kommt das FG bei erneuter Würdigung des Sachverhalts nach den Kriterien des Senatsurteils in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638 zu dem Ergebnis, die Behinderung sei nicht in erheblichem Umfang mitursächlich dafür gewesen, dass T keine Arbeit gefunden hat, hat es zu ermitteln, wie hoch der tatsächliche Lebensbedarf (Grundbedarf und behinderungsbedingter Mehrbedarf) von T gewesen ist und ob der in der Regel für eine Tätigkeit von 20 Wochenstunden gezahlte Arbeitslohn ausgereicht hätte, um den gesamten Lebensbedarf von T zu finanzieren.
Nimmt das FG dagegen eine –einen Kindergeldanspruch begründende– erhebliche Mitursächlichkeit an, hat es zu prüfen, ob der Kläger auch nach der Heirat von T im Februar 2003 noch zum Bezug von Kindergeld berechtigt ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs würde dem Kläger wegen der vorrangigen Unterhaltspflicht des Ehepartners Kindergeld nur zustehen, wenn dessen Einkünfte für den vollständigen Unterhalt des Kindes nicht ausgereicht hätten (Senatsurteil vom 19. April 2007 III R 65/06, BFHE 218, 70, BStBl II 2008, 756, m.w.N.). Entgegen der Ansicht des FG lässt allein die Heirat des Kindes den Kindergeldanspruch nicht zwingend entfallen.