Bundesverfassungsgericht soll über Zulässigkeit der Zwangsbehandlung entscheiden

Landgericht Bremen hält § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB für verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht soll über die Frage entscheiden, ob die Vorschrift des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit sie die Untersuchung des Gesundheitszustandes, die Heilbehandlung und ärztliche Eingriffe gegen den natürlichen Willen des Betroffenen zulässt. Das Landgericht Bremen hat ein Verfahren über die Genehmigung einer Zwangsmedikation ausgesetzt und gem. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt (Beschluss vom 10. Mai 2012, 5 T 101/12). Falls das Bundesverfassungsgericht den Vorlagebeschluss nicht als unzulässig ansehen sollte, zeichnet sich damit eine Klärung der anlässlich der UNO-Behindertenrechtskonvention eröffneten Diskussion um die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung ab: wenn das Bundesverfassungsgericht die Norm als verfassungswidrig einstufen sollte, besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

In dem ausgesetzten Verfahren geht es um die Medikation eines an einer chronischen Psychose erkrankten, mehrfach geschlossen untergebrachten Betroffenen mit dem Antipsychotikum Decentan in einer Dosierung von bis zu 48 mg/täglich. Der Betroffene habe keine Krankheitseinsicht und verweigere die zur Behandlung seiner Schizophrenie notwendige Medikation. Dadurch drohe eine weitere Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. Der Betreuer hatte ohne Erfolg die betreuungsgerichtliche Genehmigung der Zwangsbehandlung beantragt.

In den fachärztlichen Gutachten wurden zeitweise stark bedrohliche Verhaltensweisen und Morddrohungen gegen Klinikmitarbeiter berichtet. Es sei davon auszugehen, dass eine Medikation den Einfluss des Wahns auf das Handeln des Betroffenen deutlich insoweit mindere, dass er trotzdem in die Lage versetzt werde, eine gesicherte soziale Existenz zu haben. Ohne Medikation sei mit fremdaggressiven Handlungen und dem Verlust der Wohnung zu rechnen. Bei dem Betroffenen bestehe keinerlei Krankheitseinsicht und keine Behandlungsmotivation zur medizinisch notwendigen Pharmakotherapie unter stationären Bedingungen. Der Betroffene war aufgrund aggressiven Verhaltens zeitweise fixiert.

Die 5. Kammer des LG Bremen ist der Überzeugung, dass eine neuroleptische Heilbehandlung des Betroffenen gegen seinen natürlichen Willen dringend erforderlich sei. Eine Genehmigung der beantragten Zwangsmedikation im Rahmen der betreuungsrechtlichen Unterbringung komme allein auf der Grundlage von § 1906 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 BGB in Betracht, nicht nach dem Bremer Psychischkrankengesetz. § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB sei aber insoweit mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, als die Vorschrift die Untersuchung des Gesundheitszustandes, die Heilbehandlung und ärztliche Eingriffe gegen den natürlichen Willen des Betroffenen zulässt. Die aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sich ergebenden strengen Anforderungen an die Zulässigkeit des Eingriffs seien in § 1906 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 BGB in Verbindung mit §§ 312 ff. FamFG nicht erfüllt.

Das LG Bremen weist in seinem Vorlagebeschluss dem Bundesverfassungsgericht auch einen Weg, mit welchen Ergänzungen die Bestimmung doch noch in Einklang mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG gebracht werden könne:

•    Die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung müsse durch einen Arzt erfolgen.
•    Der Betroffene müsse ungeachtet seiner Einwilligungsunfähigkeit vor Beginn der Behandlung über deren Inhalt, Zweck und Risiken sowie etwaige Behandlungsalternativen durch einen Arzt informiert werden.
•    Eine Zwangsbehandlung müsse – außer bei akuten Notfällen – dem Betroffenen konkret angekündigt werden, damit dieser die Möglichkeit habe, rechtzeitig gerichtlichen Rechtsschutz zu suchen.
•    Die gegen den natürlichen Willen des Betroffenen ergriffenen Behandlungsmaßnahmen einschließlich ihres Zwangscharakters, der Durchsetzungsweise, der maßgeblichen Gründe und der Wirkungsüberwachung seien zu dokumentieren.

Diese Anforderungen seien im Hinblick auf die allgemeinen berufs- und zivilrechtlichen Vorgaben in der Praxis bereits häufig erfüllt. § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB als gesetzliche Ermächtigungsnorm müsse aber auch nach seinem Wortlaut die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Zulässigkeit des Eingriffs hinreichend klar und bestimmt regeln.