Bundesverfassungsgericht erklärt Zwangsbehandlung außerhalb geschlossener Unterbringung für zulässig

Schutzpflicht des Staates muss mit Selbstbestimmungsrecht abgewogen werden

Das Bundesverfassungsgericht hat in Erweiterung von § 1906 Abs 3 BGB Zwangsbehandlungen auch bei lebensbedrohenden somatischen Erkrankungen für zulässig erklärt, wenn die Betroffenen nicht geschlossen untergebracht sind, sich aber einer ärztlichen Behandlung räumlich nicht entziehen können.

Der Gesetzgeber habe die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu schließen, also § 1906 zu erweitern. Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Regelung hat das Gericht die entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis auf Weiteres angeordnet.

Die psychisch kranke Betroffene war in einer (offenen) stationären Einrichtung auch somatisch lebensbedrohlich erkrankt, lehnte jedoch mit natürlichem Willem eine Behandlung ab. Betreuungsgericht und Beschwerdegericht wiesen den Antrag der Betreuerin auf Genehmigung von freiheitsentziehender Unterbringung und Zwangsbehandlung mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen gem. § 1906 Abs. 1 und 3 BGB zurück. Der Bundesgerichtshof legte den Fall dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor. Ob eine Zwangsbehandlung im ambulanten Kontext zulässig sein soll, war nicht Gegenstand des Verfahrens.

Der Leitsatz des Beschlusses lautet: „Es verstößt gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass für Betreute, die keinen freien Willen bilden können, eine medizinisch notwendige Behandlung vollständig ausgeschlossen ist, wenn sie ihrem natürlichen Willen widerspricht, sie aber nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, weil die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen.“

Der Staat habe eine konkrete Schutzpflicht zugunsten der Betroffenen, die wegen einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung hinsichtlich der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht einwilligungsfähig seien, so der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts. Diese Schutzpflicht folge aus der spezifischen Hilfsbedürftigkeit der „unter Betreuung stehenden“ Menschen, die nicht einfach sich selbst überlassen werden dürften. Bei fehlendem freien Willen und Vorliegen der weiteren Voraussetzungen der Zwangsbehandlung habe die Schutzpflicht Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht.

Der 1. Vorsitzende des Bundesverbandes freier Berufsbetreuer, Walter Klitschka, begrüßte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die Handlungsverpflichtung für den Gesetzgeber. „In der Zeitspanne vor Inkrafttreten des § 1906 Abs 3 BGB sind Menschen gestorben, weil geschlossene Unterbringungen als unzulässig angesehen wurden, Auch die bisherige Bindung der Zwangsbehandlung an eine geschlossene Unterbringung hat Menschenleben gekostet. Jetzt haben verantwortungsbewusst handelnde Berufsbetreuer eine Möglichkeit, auf die  Verlängerung des Lebens ihrer Betreuten und den Schutz von deren Menschenwürde hinzuwirken“, erklärte Klitschka in Berlin. Er wies darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht für die Vereinbarkeit seines Beschlusses mit der UN-Behindertenrechtskonvention keine Begründung für erforderlich hielt. „Der BVfB vertritt seit Jahren die Auffassung, dass im Betreuungsrecht das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen mit der staatlichen Pflicht zum Schutz ihrer Menschenwürde abgewogen werden muss“, so Klitschka.