Keine Selbstbestimmung um jeden Preis – Anordnung einer rechtlichen Betreuung trotz Vorliegens einer Vorsorgevollmacht 

Beschluss des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 15.06.2022 – XII ZB 85/22

Eine wirksame Vorsorgevollmacht steht der Erforderlichkeit einer rechtlichen Betreuung nicht entgegen, wenn der Bevollmächtigte zur Erledigung der Angelegenheiten des Vollmachtgebers ungeeignet ist.

In einem Verfahren zur Anordnung einer rechtlichen Betreuung ordnete das Amtsgericht Leer eine umfassende Betreuung für die Betroffene an, obwohl diese im Jahr 2012 ihrer Halbschwester wirksam Vorsorgevollmacht erteilt hatte. Gegen den Beschluss über die Anordnung der rechtlichen Betreuung legte die Bevollmächtigte Beschwerde ein. Das Landgericht hob die Entscheidung des Amtsgerichts auf. Gegen die Entscheidung des Landgerichts legte die Betreuungsbehörde Rechtsbeschwerde ein, die das Landgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles zugelassen hatte. Die Rechtsbeschwerde der Betreuungsbehörde hatte Erfolg und der BGH verwies das Verfahren zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Aurich zurück.

Nach § 1896 Abs. 2 BGB darf ein rechtlicher Betreuer nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Die Erforderlichkeit einer Betreuung ist nicht gegeben, soweit die Angelegenheiten des Betroffenen durch Bevollmächtigte genauso gut besorgt werden können (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB). Eine rechtliche Betreuung ist grundsätzlich nachrangig gegenüber einer Vorsorgevollmacht, wenn Letztere wirksam durch die Betroffene erteilt wurde (Subsidiarität der Betreuung). Dies gilt aber nicht ausnahmslos: Eine wirksam erteilte Vorsorgevollmacht entbindet das Gericht nach Ansicht des BGH nämlich nicht davon, die Eignung der Bevollmächtigten zu überprüfen. Nach Aufklärung des Sachverhaltes von Amts wegen hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen über die Eignung der Bevollmächtigten zu entscheiden.

Ergeben die Ermittlungen des Betreuungsgerichts, dass eine wirksame Vorsorgevollmacht erteilt wurde, aber der Vorsorgebevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten der Betroffenen zu besorgen, ist die Anordnung einer rechtlichen Betreuung erforderlich. Die Ungeeignetheit des Bevollmächtigten ist unter anderem dann gegeben, wenn konkrete Anhaltspunkte für den Missbrauch der Vollmacht oder erhebliche Zweifel an der Redlichkeit des Bevollmächtigten bestehen. Hierzu hatte der Beschwerdeführer vorgetragen, dass die Halbschwester als Vermieterin den Mietvertrag mit der zu diesem Zeitpunkt bereits an fortgeschrittener Demenz erkrankten Betroffenen gekündigt hatte. Diesen Vortrag hätte das Landgericht zum Anlass nehmen müssen, den Sachverhalt näher aufzuklären. Stattdessen hatte es sich darauf beschränkt, die Erforderlichkeit der rechtlichen Betreuung mit dem Hinweis auf das Vorliegen einer wirksamen Vorsorgevollmacht zu verneinen.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist zwar unpopulär, da sie das Selbstbestimmungsrecht einschränkt, jedoch in jeder Hinsicht zu begrüßen. Sie ist Ausdruck des staatlichen Fürsorgegedankens. Die Erforderlichkeit einer Betreuerbestellung kann nicht unabhängig davon beurteilt werden, ob ein Vorsorgebevollmächtigter geeignet ist, die Angelegenheiten für den Bevollmächtigten zu besorgen. In diesem Zusammenhang geht es nicht allein um die Frage, ob der Eignung gesundheitliche der tatsächliche (Bsp.: Ortsabwesenheit) Gründe entgegenstehen, sondern auch darum, ob die bevollmächtigte Person bereit ist, den Willen des Vollmachtgebers umzusetzen und ihm weder gesundheitlich noch wirtschaftliche zu schaden.

Da Vorsorgebevollmächtigte typischerweise nach der Diagnose einer schwerwiegenden Erkrankung, die Auswirkungen auf die freie Willensbildung hat, tätig werden, ist es zu begrüßen, dass sich der Staat zum Schutz der Bürger ausnahmsweise „einmischt“, wenn Vollmachtgebern schwere Schäden drohen, die sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbst abwenden können. Ob diese Voraussetzungen hier vorlagen, entscheidet aber nicht der Bundesgerichtshof, sondern das Landgericht in Anschluss an eine weitere Aufklärung des Sachverhaltes. Die Entscheidung ist auch deshalb zu begrüßen, weil in der Praxis nicht selten Vorsorgevollmachten zu einem Zeitpunkt erteilt werden dürften, zu dem bereits Zweifel an der Geschäftsfähigkeit des Vollmachtgebers bestehen, die nicht von Ärzten abgeklärt werden.